.
VERTREIBUNG der Familie Martha Honal mit 2 Kindern und den Großeltern Patzak im August 1945
(Grafik dazu hier)
Weiter in Prag zu leben wurde im Herbst 1944 für Deutsche immer schwieriger, da die Schikanen durch tschechische Nationalisten ständig zunahmen und die Essenvorräte ständig abnahmen.
Unser Vater war als Soldat im Krieg - daher zogen wir ins
Vorland des Riesengebirges zu den mütterlichen Patzak-Großeltern - da gab es in
Silwarleut 17, am Stadtrand von Königinhof an der Elbe / Dvůr Králové nad Labem einen Bauernhof mit Essen und ohne Schikanen.
Aber leider nur bis Anfang August 1945. Mitten in der Nacht des 6. August 1945 um 3 Uhr 20 wurden wir unsanft geweckt mit dem Befehl , die Wohnung aufgeräumt mit allem Hab und Gut "innerhalb von 2 Stunden zu verlassen" und uns "um 6 Uhr früh" mit einem Gepäck von maximal "25 kg pro Person" beim Bahnhof einzufinden. Andernfalls haben wir mit Strafsanktionen für die Familie zu rechnen.
Um um 6 Uhr ging es dann los, 2.000 Leute von Königinhof in Güterwaggons, zu Fuß und ab Schmilka mit Schiffen, immer der Elbe entlang. 4 von 5 Personen unserer Familie haben diese entsetzlich Verbrechen der sog. „Wilden Vertreibung“ überlebt, die nicht spontan erfolgte, sondern von Rotarmisten, das waren bestimmte, radikalisierte Russen, und deren tschechischen Helfern, organisiert waren.
Wir Kinder haben die schrecklichen Ereignisse weitgehend aus der Erinnerung gelöscht. Mit dem gleichen Zug wurde aber auch der jungen Lehrer
Gottfried Zelfel
(1922-2017) vertrieben, der
ein
Tagebuch schrieb,
das er mir überlies.
Er verblieb in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone, später DDR) und konnte in Blankenburg unterrichten und dort mit seiner Familie leben.
1. und 2. Tag der Vertreibung: Über uns die Sterne
12 Stunden schon rumpelt der Güterzug durch Böhmen - an die 50 Waggons ! Die Fracht - Menschen! Vertriebene!
Sehen konnte man nichts, niemand wagte über den Rand des Waggons zu schauen. In jedem Waggon waren an die 50 Menschen jeden Alters, Säuglinge und Greise, Gesunde und Kranke, Gelähmte sogar; man hatte gründlich ausgeräumt. Da saßen sie auf ihren Bündeln. Man hörte nur die Stimmen der Rangierer auf den Bahnhöfen: HRADEC, KOLIK, NYMBURK, MELNIK..., denn es war Nacht, und nur der Sternenhimmel stand über den Waggons, die offen waren, am Tage vorher noch mit Kohle beladen. Es war August, und ab und zu zog eine Sternschnuppe ihre Bahn. Die Vertriebenen waren die Landsleute
aus Königinhof, Silwarleut, Rettendorf, Neudorf und Kränke. Es war der letzte illegale oder sog. wilde Transport, schon nach der Potsdamer Konferenz. Auf dieser hatte man beschlossen, „human umzusiedeln"! Da mussten die verhassten „Němci" noch schnell vertrieben werden. Die Russen nahmen in ihrer Zone alle auf, kontrollierten nicht, ob jeder das mitführte, was erlaubt war - um die 25 kg Gepäck. Sie nahmen nur noch von dem Wenigen, was diese Menschen besaßen. Man bediente sich von beiden Seiten! Die tschechische Soldateska stahl aus Koffern, Rucksäcken, Bündeln, die Russen gleich den Koffer oder den Rucksack.
Wir fuhren schon geraume Zeit nach Norden, deutlich sah man den Polarstern - Tetschen also wohl das Ziel. Wenige Wochen davor war ich noch als Soldat in umgekehrter Richtung gefahren, erfüllt vom Leichtsinn der Jugend, obwohl wissend um das Kriegsende. „Es wird schon irgendwie geh'n!" Nicht ahnend, wie tödlich diese Zeit dann wurde. Das war schlimmer als Krieg! Nun saß ich auf meinem Rucksack und hatte diese Zeit hinter mir. Ein starker, mächtiger Schutzengel hatte mir da wohl zur Seite gestanden! Ich hatte überlebt - wieder einmal! Und ich war erleichtert, fuhr irgendwohin. Vier Jahre Krieg als Soldat und 12 Wochen Plündern und Morden im Frieden, zu Hause, lagen hinter mir. Das alles ging da unter dem Sternenhimmel durch meinen Kopf!
Mir fielen die Nächte in Russland, in Italien, in der Normandie ein, immer waren es dieselben Sterne. Ein Ruck! Der Zug hielt und die Waggons stießen aneinander. So übertrug sich der Ruck von Waggon zu Waggon und auf die Menschen in den Wag-gons. Was wird nun, dachte wohl jeder? Keiner sprach, nur das Weinen eines Kindes, aufgewacht wohl durch diesen Ruck, unterbrach die Stille. Nach einer Weile fuhr die Lok auf dem Nebengleis vorbei, so war es wohl die Endstation. Der Zug stand, die Sterne verblassten, der Silberstreif der Dämmerung war zu sehen. Da begann das Gebrüll der Tschechen! Ven, ven, hotem! (Raus, raus, schnell). Das Entladen begann auf einem Verschiebebahnhof in „Dečin" (Tetschen) das konnte man lesen, es war 4:00 Uhr morgens. Hinter uns lagen 24 Stunden, ausgefüllt mit Angst und Schrecken. Als es wieder Abend wurde, wies man uns in einer Veranda einer Pension Schlafplätze zu. Die Pension lag direkt an der Elbe, nicht weit der Anlegestelle für Schiffe - der Ort hieß
Schmilka. Wieder waren es nur Bretter, auf die wir uns niederließen, aber diesmal waren sie sauber, nicht voller Kohlendreck wie in den Waggons. Der Marsch von Tetschen nach Schmilka war für viele meiner Landsleute ein wahrer Leidensweg, der sich qualvoll bis zu den Felsen von
Herrnskretschen hinzog. Russen und Tschechen hatten manchem das Letzte geraubt. Verzweiflung kennzeichnete die Gesichter und Trauer - es hatte auch Tote gegeben, die ersten. Und hier unter den Felsen fand die letzte Plünderung durch die tschechische Soldateska statt. Sie stahlen, was ihnen gefiel, entließen dann mit höhnischen Worten ihre Sklaven: „Heim ins Reich wollt Ihr! Dort ist das Reich!" Es begann hinter einem Schlagbaum, und man konnte auf handgeschriebenen Schildern lesen:
„Kein Trinkwasser, Flüchtlinge dürfen sich nur 24 Stunden im Ort aufhalten!" Die Türen in die Häuser waren verschlossen, kaum ein Mensch zu sehen. Was aber haben die Menschen, die da wohnten, gesehen seit Wochen? Manchmal sah man ein Gesicht hinter der Scheibengardine.
Ich war diesmal doppelt erleichtert, einmal, weil ich lebend über die Grenze gekommen war, zweitens fast mit leerem Rucksack. Zuviel hatte den Marodeuren gefallen, zuletzt noch meine Schuhe, die ich ausziehen musste.
Was nun? Es wurde wieder eine klare Nacht, und durch die Scheiben der verglasten Veranda schienen die Sterne, so wie sie vor 24 Stunden, vor Wochen, Monaten schienen und über dem offenen Waggon der letzten Nacht funkelten. Es waren dieselben Sterne, aber es waren nicht mehr die Sterne der Heimat.
3. und 4. Tag der Vertreibung: Das Erwachen
An diesem Morgen des 8. August 1945, an dem meine Mutter [Marie Zelfel] ihren 48. Geburtstag hatte, erwachten in dem kleinen Ort
Schmilka
an der Elbe an die 2.000 Vertriebene. Im Laufe des Vortages war der lange Treck über Stunden hindurch im Ort angekommen. „So geht es seit Juni", sagte mir ein Einheimischer, „Jede Wochen treffen hier zwei und mehr solche Elendszüge ein." Die Elbschiffer übernahmen ab hier bis Riesa den Transport der nun Heimatlosen. Die Etappen dahin waren: Pima - Dresden - Riesa, Züge fuhren da nicht. Der erste Dampfer legte gegen 8:00 Uhr an der Anlegestelle an. Wohl an die 200 Menschen konnten mitfahren. Nach 45 Minuten legte der Dampfer wieder ab. An die vier oder fünf Schiffe befuhren die Strecke
Schmilka - Pirna, hin und zurück. Bis in die Mittagsstunden dauerte der Abtransport. In Pirna war eine Auffangstation, die alle Vertriebenen aufsuchten. Hier händigte man ihnen einen Schein aus, der sie auswies und zur Weiterfahrt berechtigte. Es war dies eine Einweisung in die Region, die zurzeit Vertriebene aufnahm. Für unseren Transport waren das die Kreise Aschersleben und Wolmirstedt. So begann die erste große Teilung, die dann ab Riesa, von wo es per Bahn weiterging, einsetzte. Hatte man diesen Schein, ging es zurück zur Anlegestelle, wo wieder Dampfer, diesmal bis
Dresden, die Vertriebenen aufnahmen. Soweit der technische Ablauf des weiteren Geschehens.
Der 8. August war noch ein sonniger Tag, erst in den Nachmittagsstunden zog Bewölkung auf. An einer Anlegestelle im Großraum Dresden entluden die Dampfer ihre Menschenfracht. So ging das bis in die späten Abendstunden, da zogen bereits die ersten Gewitterwolken auf. Wohin man blickte, Wiesen, wenig Häuser nur, aber ein Barackenkomplex in Nähe der Anlegestelle. Dahin bewegte sich nun der nicht abreißende Strom der Menschen. In den
Baracken nur Strohbündel und löchrige Dächer. An die 20 Leute pferchte man in einen Raum. Es sollte noch einmal eine grausige Nacht werden. Als die letzten Leidensgenossen eintrafen, fielen erste Tropfen einer aufziehenden Gewitterfront, und es dauerte nur noch Minuten, da stand das Gewitter über uns. Und da blieb es stehen bis in die Morgenstunden; es konnte wohl nicht über die Elbe hinweg. Was sich in diesen Stunden entlud, erinnerte mich an eine Nacht in den italienischen Bergen, Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag und der prasselnde Regen auf die kaputten Dächer. Bald lief das Wasser in die Räume, tropfte von der Decke herab und im Aufleuchten der Blitze, die den Raum kurz erleuchteten, sah man Ratten, die über die Strohbündel, die Beine der Menschen eilig hin und her liefen. Da hub in einer Ecke ein leises Klagen an, in das bald viele einfielen und
lautes Weinen erfüllte den Raum. Nun erwachten die Landsleute aus ihrer Agonie, wurden sich der ganzen Tragweite des Geschehens, dem sie nicht entrinnen konnten, bewusst. Gebete und Flüche hörte man, das Schweigen war nach drei Tagen gebrochen, man war aufgewacht. Nach dieser Nacht war auch meine Mutter, die alles bis jetzt ertragen hatte, fast am Ende. Meine Großmutter aber, damals 74 Jahre alt, sagte: „Marie, flenn ok ne, s' Himmelsvotala wat ons schun wieder helfa!" Das Gottvertrauen war grenzenlos. Gegen 4.00 Uhr war Stille, das Wetter hatte sich ausgetobt, die Leute ermattet.
Mühselig schleppten wir uns nach dieser Nacht zur Anlegestelle. Es nieselte noch und so blieb es bis Riesa. Es begann der 4. Tag der Vertreibung. Zwischen Dresden und Riesa waren die Schiffe größer, breiter auch die Elbe. An die 500 Seelen fasste der Dampfer. Da es regnete, war das Deck oben leer, alle waren unten im Schiff. das ziemlich tief im Wasser lag, so dass man durch die Bullaugen auf die Wasserfläche blicken konnte, Da saßen sie, die Nachbarn, die Bekannten, auf ihren Säcken oder Rucksäcken, und das namenlose Leid der letzten Nacht hatte nun Gesicht und Namen. Noch heute sehe ich sie vor mir, unvergesslich prägten sich die Bilder des Elends ein. Manche weinten leise, verstohlen, den Kopf tief auf die verschränkten Anne gelegt, damit man es nicht sehen sollte. „Mei schienes Wertschoftla", sagte der Bauer Tschirutschke aus Rettendorf - unser Feldnachbar - mit weinerlicher Stimme, und seine beiden Buben standen hinter ihm.
„Do-sat ok ha" (schaut her), rief eine Stimme vom Bullauge her, und fast alle schauten und sahen einen
Toten auf dem Wasser
schwimmen. Es blieb nicht der einzige an diesem Tag. Eine neue Verzweiflung brach aus, und man hörte, wie jemand sagte: „Das wäre das Beste, in die Elbe springen!" In Riesa legten wir gegen 15:00 Uhr an. Die Ankömmlinge wurden in feste Häuser - Schulen waren es - eingewiesen. Es gab Pritschen und Decken, Waschräume, Toiletten und die Eingangstüren wurden fest verschlossen. Freitag früh, am 10.Aug..1945, nahmen wir Abschied von der Familie Röhrich Karl - ein Onkel meines Vaters -, vom Wiener Onkel Wenzel Röhrich, vom Nachbar Wawra und seinem Sohn Peppl und anderen Nachbarn. Die Wege trennten sich. Von den meisten war es ein Abschied für immer, ich sah sie nicht mehr, doch ich vergesse sie nicht. 60 Jahre danach! Jene, die alles verloren, sind schon lange gestorben. Ihre Sehnsucht nach Rückkehr haben sie mit ins Grab genommen, aufgegeben haben sie diese nicht. Und die Buben von damals? Sie studierten, sind Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Wissenschaftler. Mancher kam zu Ehren. Ob sie noch an den Kreuzweg vom August 1945 denken?
Gottfried Zelfel
Wir kamen mit dem Schiff von Riesa bis zur Lutherstadt Wittenberg und konnten dort in einer Turnhalle übernachten. Die Stadt war aber schon von vorausgehenden Vertreibungs-Transporten überfüllt.
Am nächsten Tag erfolgte daher die Verteilung auf die Dörfer im Landkreis, die heute teilweise nach Wittenberg eingemeindet sind. Meine Mutter Martha Honal (`1913) mit ihren beiden Buben Gerd (`1938) und Werner (`1942) wurden der uns liebevoll helfenden Familie Biener in der
Lindenstr. 6 in Reinsdorf zugewiesen, die halbwegs Platz hatten, weil deren Vater noch in russischer Gefangenschaft war. Meine Großeltern
Filomena (`1888) und Wilhelm Patzak (`1864) wurden bei einer anderen Familie im Braunsdorf, heute auch nach Wittenberg eingemeindet, 2 km weg einquartiert. Oma Filomena half uns tatkräftig, schaffte Kleidung, Essen und Trinken herbei - ob wir ohne sie überlebt hätten? Wilhelm Patzak starb dort an den Folgen der Vertreibung (am Sterbzettel: Lungenentzündung) am 2. April 1946, da er schon im März schwer krank war, wollte seine Frau bei ihm bleiben. Unsere dreiköpfige kleine Honal-Familie konnte aber
am 13. März 1946 das Elbtal nach Süden, nach
Amberg in der Oberpfalz, verlassen und dort mit unserem Vater wieder zusammentreffen. Als „Antifaschist“ wurde er bald aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, aber nicht nach Hause in den böhmischen Kreis
Mies, sondern 100 km östlich davon nach Amberg in der Oberpfalz im benachbarten Bayern. Nach 6 Tagen mit Zwischenaufenthalt in Baracken in
Hof a.d. Saale kamen wir am Josefi-Tag, also am 19. März 1946, in Amberg an und konnten zunächst bei der Familie Liersch im Kaiser-Wilhelm-Ring 6 unterkommen.
Da setzt dann wieder meine persönliche Erinnerung ein, an das kinderliebe Hausmädchen Minna, an den Friseur in der Untereren Nabburger Straße, der mir meine blonden Locken abschnitt.
Werner Honal

2.000 Leute von Königinhof in Güterwaggons, zu Fuß und ab Schmilka mit Schiffen, immer der Elbe entlang.
4 von 5 Personen unserer Familie haben diese entsetzlich Verbrechen der sog. „Wilden Vertreibung“ überlebt, die nicht spontan erfolgte, sondern von Rotarmisten, das waren bestimmte, radikalisierte Russen, und deren tschechischen Helfern, organisiert waren.
